14. Dezember 2022
Betrügerische Teilchen aufgedeckt und erklärt
Auf der Jagd nach dem Rockstar unter den Teilchen entdeckten ISTA Forscher:innen nun einen Nachahmer
Das Interesse an Majoranas, einer theoretischen Teilchenart, ist groß. Ihnen werden viele exotischen Eigenschaften zugesprochen, unter anderem auch ihre mögliche Verwendung für Quantencomputer. Jedoch wurden diese Teilchen noch nie in Experimenten nachgewiesen. Nun haben Wissenschafter:innen des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in internationaler Zusammenarbeit, Majorana-Imitatoren entdeckt. Die angewendeten Messmethoden helfen, Interpretationsunsicherheiten bei der zukünftigen Suche nach diesen rätselhaften Teilchen zu verringern.
Teilchen betreten eine Bar. Eines rockt wie das schwer fassbare Majorana-Teilchen. Alle sind begeistert. Die Tür wird geöffnet und alle verlassen den Raum, auch der vermeintliche Rockstar. Die Party rockt nicht mehr. Haben wir tatsächlich ein Majorana-Teilchen beobachtet? „Nicht wirklich“, meint ein internationales Forschungsteam.
Auf der Suche nach den Majorana-Teilchen hat das Team, bestehend aus Forscher:innen des Institute of Science and Technology Austria (ISTA), des Materials Science Institute in Madrid (Spanish Research Council CSIC) und des Catalan Institute of Nanoscience and Nanotechnology, die Existenz sehr überzeugender Majorana-Imitatoren nachgewiesen. Ihre Ergebnisse, die auf neuen theoretischen und experimentellen Methoden beruhen, werden heute im Fachmagazin Nature veröffentlicht.
Majoranas auf der Spur
Die bekanntesten Teilchen sind das Elektron und das Photon, welche zwei großen Familien zugeordnet werden: den Fermionen und den Bosonen. Zu diesen beiden Gruppen gehören alle anderen Teilchen in der Natur. Nun, fast alle. Eine weitere mögliche Teilchen-Kategorie sind die sogenannten Anionen. Es wird vermutet, dass Anionen in Materialien, welche klein genug sind, um die elektronische Wellenfunktion einzudämmen, aus dem kollektiven Tanz vieler wechselwirkender Elektronen entstehen. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Majorana-Nullmoden. Sie sind ein anionischer Cousin der Majorana-Fermionen und wurden 1937 von Ettore Majorana erstmals vorgeschlagen. Majoranas, wie diese hypothetischen Anionen liebevoll genannt werden, sollen zahlreiche exotische Eigenschaften aufweisen: Sie sind ident mit ihren Antiteilchen, können sich selbst zerstören und haben die Fähigkeit, Quanteninformation zu verbergen, indem sie nicht lokal im Raum kodiert wird. Die Wissenschafter:innen sind sich einig, dass gerade letzteres robuste Quantencomputer ermöglichen könnte.
Seit 2010 suchen zahlreiche Forschungsgruppen nach Majoranas. Im Gegensatz zu Elektronen oder Photonen, die im Vakuum existieren, müssen Majorana-Anionen in hybriden Materialien erzeugt werden. Eine der vielversprechendsten Plattformen dafür basiert auf hybriden Supraleiter-Halbleiter-Nanobauteilen. In den letzten zehn Jahren wurden diese Instrumente bis ins kleinste Detail untersucht in der Hoffnung, die Existenz von Majoranas eindeutig nachweisen zu können. Das Problem jedoch ist: Majoranas sind sehr komplizierte Einheiten, die leicht übersehen oder mit anderen Quantenzuständen verwechselt werden.
Der Majorana Rockstar
In ihrer neuesten Publikation gehen die Wissenschafter:innen den Geheimnissen der Majorana Physik auf den Grund. Zum ersten Mal wurden zwei etablierte Techniken gleichzeitig angewendet. Überraschenderweise entdeckten die Autor:innen, dass jene Zustände, welche mit der ersten Technik (Coulomb Spektroskopie) beobachtet wurden und stark auf Majoranas hindeuten, aus der Perspektive der zweiten Methode (Tunnel-Spektroskopie), nicht sichtbar waren.
Die Beobachtungen können mit dem folgenden metaphorischen Szenario beschrieben werden. Auf der Suche nach dem sagenumwobenen Majorana-Rockstar spähen Sie durch eine Tür („Source“, siehe Grafik) in eine Bar. Es scheint ein Konzert stattzufinden. Ein als Majorana gekleideter Rockstar steht auf der Bühne und singt Majorana-Lieder. Als Sie jedoch die große Tür („Drain“) am anderen Ende der Bar öffnen, verlassen alle Fans eilig das Lokal – unter ihnen auch der vermeintliche Rockstar. Ein echtes Majorana würde so etwas nie tun.
„Genau das macht Majoranas so besonders. Ähnlich wie wahre Rockstars, die die Bühne nicht einfach verlassen, wenn ein Ausgang zur Verfügung steht, bleibt das Majorana-Anion aufgrund eines tiefgreifenden mathematischen Prinzips, dem sogenannten topologischen Schutz, an eine Seite des Nanobauteils gefesselt – auch dann, wenn normale Elektronen durch die gegenüberliegende Seite entkommen können“, erklären die Forscher:innen die Metapher. „Wir wollten feststellen, ob es Majoranas gibt oder nicht. Bei unserem Versuchsaufbau sind die Türen Tunnelbarrieren, durch die Elektronen hinein- und hinausgeschickt werden. Es sind eine Abfluss- sowie eine Quellentür vorhanden. Betrachtet man die Teilchen mithilfe beider Spektroskopiemethoden gleichzeitig, entpuppt sich unser Majorana-Rockstar-Imitator als eine andere Art von Quasiteilchen. Es handelt sich zwar nicht um Majoranas, aber es sind durchaus interessante Supraleiter-Quasiteilchen“, so die Wissenschafter:innen weiter.
Die Erkenntnisse unterstreichen die Tatsache, dass „falsche“ Majoranas überall zu finden sind. Sie können in vielen verschiedenen Systemen vorkommen und unterschiedliche Messverfahren verfälschen. Durch die Kombination von zwei Messstrategien, die auf dasselbe Gerät angewendet wurden, konnte der „Betrüger“ durch ein scheinbares Paradoxon entlarvt werden – ein Ansatz, der die Interpretationsunsicherheiten bei künftigen Experimenten drastisch verringern könnte. Mit ihrer Arbeit leisten die Forscher:innen einen wichtigen Beitrag, um die schwer fassbaren Majorana-Teilchen eines Tages einzufangen und ihre Eigenschaften nutzbar zu machen.
Publikation:
M.Valentini, M. Borovkov, E. Prada, S. Martí-Sánchez, M. Botifoll, A. Hofmann, J. Arbiol, R. Aguado, P. San-Jose, G. Katsaros. 2022. Majorana-like Coulomb spectroscopy in the absence of zero-bias peaks. Nature. DOI: 10.1038/s41586-022-05382-w
Projektförderung:
Der ISTA Teil der Forschungsarbeit wurde von den wissenschaftlichen Serviceeinheiten des ISTA mit Mitteln aus der MIBA-Werkstatt und der Nanofabrikationsanlage sowie durch die NOMIS Foundation unterstützt. ISTA Postdoc, A. Hofmann, erhielt Unterstützung durch H2020-MSCA-IF-2018/844511