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21. März 2025

Der erste Welttag für Gletscher

Interview mit ISTA-Professorin Francesca Pellicciotti

Die Gletscher schmelzen rasch, ein Warnzeichen für die Auswirkungen des Klimawandels. Anlässlich des ersten Welttages der Gletscher sprachen wir mit ISTA-Professorin Francesca Pellicciotti. Sie untersucht anhand von Modellen die Wechselwirkungen zwischen dem sich verändernden Klima, den Gletschern, dem Schnee und den Wasserressourcen.
Lesen Sie ihre Gedanken über die Bedeutung von Gletschern, die besten und schlimmsten Szenarien für unseren Planeten und ihre persönlichen Erfahrungen bei der Forschung in einigen der entlegensten Landschaften der Welt.

ISTA Professor Francesca Pellicciotti.
ISTA-Professorin Francesca Pellicciotti. © ISTA

Der Weltgletschertag macht auf das weltweite Abschmelzen der Gletscher aufmerksam. Wenn Sie einen offenen Brief an die Menschheit schreiben könnten, was würden Sie darin schreiben?

Gletscher sind ein wesentliches Merkmal unserer Gebirgslandschaft, und Berge sind ein wichtiger Teil unserer Realität als Menschen. Doch heute erleben wir, wie sie mit alarmierender Geschwindigkeit verschwinden. Während Gletscher schon immer Schwankungen unterworfen waren – sie wachsen und schrumpfen im Laufe von Tausenden oder gar Millionen von Jahren –, schrumpfen sie jetzt in einem noch nie dagewesenen Tempo. Wir verlieren etwas, das nicht nur visuell und kulturell wichtig ist, sondern auch für die Ökosysteme von entscheidender Bedeutung ist. Gletscher sind wichtige Wasserquellen für viele Regionen der Welt. Ihr rapider Rückgang spiegelt unseren enormen Einfluss auf den Planeten wider – genau wie die Abholzung von Wäldern, wo Bäume, die Jahrhunderte brauchten, um zu wachsen, in einem Augenblick abgeholzt werden. Für mich ist dies ein Zeichen für unsere Arroganz. Wir haben die Macht, unsere Umwelt so drastisch zu verändern, und dennoch erkennen wir die Konsequenzen oft nicht an. Wir müssen Maßnahmen ergreifen.

Wie geht man damit um, etwas zu erforschen, das in ein paar Jahrzehnten wahrscheinlich nicht mehr existieren wird?

Nicht alle Gletscher werden verschwinden. Große Gletscher – wie die in Alaska, im asiatischen Hochgebirge oder in den Anden – werden überleben. Aber der Klimawandel hat der Gletscherforschung eine neue Dringlichkeit verliehen. Ich habe meine Arbeit zwar nicht wegen des Klimawandels begonnen, aber die grundlegenden wissenschaftlichen Fragen sind heute wichtiger denn je. Gletscher sind wunderschön. Ich wünschte, mehr Menschen könnten sie sehen, um aus erster Hand zu erfahren, was auf dem Spiel steht.

Der Klimawandel hat der Gletscherforschung eine neue Dringlichkeit verliehen. © Jason Klimatsas

Wie würden Sie einem Kind erklären, warum Gletscher wichtig für unsere Zukunft sind?

Ein Gletscher ist eine riesige Eismasse, die sich in den Bergen befindet – und er bewegt sich! Wenn er sich nicht bewegen würde, wäre er kein Gletscher. Diese Bewegung ist entscheidend dafür, wie Gletscher funktionieren, wie sie schmelzen und wie sie mit der Umwelt interagieren.

Stellen Sie sich einen Gletscher als einen riesigen Wassertank vor, der nur dann Wasser abgibt, wenn es warm ist – genau dann, wenn wir es am meisten brauchen. An Orten wie den Alpen liefern Gletscher im Sommer Wasser, wenn es kaum Niederschläge gibt. Doch aufgrund des Klimawandels schmelzen die Gletscher jetzt viel schneller und geben mehr Wasser ab als sonst. Wenn sie verschwinden, wird in Zukunft nicht mehr genug Wasser für uns übrig sein.

Wie stellen Sie sich die besten und schlimmsten Szenarien für die Gletscher und unseren Planeten vor, angesichts des fortschreitenden Klimawandels? Könnte es ein „Sicherheitsnetz“ geben, das noch entdeckt werden muss?

Das Wort „Entdeckung“ bereitet mir in diesem Zusammenhang Unbehagen. Es führt oft zu Diskussionen über Geo-Engineering – die Bedeckung von Gletschern mit künstlichen Materialien, um das Schmelzen zu verlangsamen. Aber das ist keine echte Lösung. Sie mag für kleine Skigebiete funktionieren, aber nicht in großem Maßstab. Die einzige Möglichkeit, die Gletscher wirklich zu schützen, besteht darin, die Ursache des Problems anzugehen: die Verringerung der Emissionen.

Der Weltgletschertag macht auf das weltweite Abschmelzen der Gletscher aufmerksam. © Jason Klimatsas

Wir wissen, dass ein gewisser Gletscherschwund unvermeidlich ist. Selbst wenn wir heute alle Emissionen stoppen und das Klima so belassen würden, wie es ist, würden die Gletscher aufgrund ihrer Reaktionszeit noch jahrzehntelang weiter schrumpfen. In den Alpen zum Beispiel schätzen Studien, dass mindestens die Hälfte der Gletschermasse verschwinden wird, egal was wir jetzt tun.

Das beste Szenario? Dass es uns gelingt, den Prozess so weit zu verlangsamen, dass einige von ihnen erhalten bleiben. Das Worst-Case-Szenario? Wenn wir so weitermachen wie bisher und die meisten Gletscher in den Alpen bis zum Ende des Jahrhunderts verschwinden. Einige Regionen, wie der Himalaya oder der Pamir, werden ihre Gletscher behalten, weil sie viel größer sind. Aber vielerorts werden wir uns damit abfinden müssen, dass die Gletscher verschwinden werden – und mit ihnen wichtige Wasserquellen.

Die Forschung wird oft durch die technischen Möglichkeiten eingeschränkt. Hätten Sie gerne ein Werkzeug, das die Gletscherforschung revolutionieren könnte?

Ich glaube, wir haben es jetzt – künstliche Intelligenz. Ich habe kürzlich zusammen mit KI-Wissenschafter:innen einen Forschungsantrag eingereicht, um maschinelles Lernen bei der Gletschermodellierung einzusetzen. Derzeit sind unsere Modelle komplex und rechenintensiv, und es dauert Monate oder sogar Jahre, um einige der Simulationen durchzuführen. KI hat das Potenzial, dies zu revolutionieren, indem sie die Berechnungen beschleunigt und es uns ermöglicht, Modelle über größere Gebiete laufen zu lassen und Ensemblesimulationen durchzuführen.

Interview mit ISTA-Professorin Francesca Pellicciotti. © ISTA

Ihr Arbeitsgebiet verbindet Naturwissenschaft mit Abenteuer. Wie sieht ein typischer Forschungstag auf einem Gletscher aus?

Gletscherarbeit ist gefährlich. In den ersten Tagen geht es darum, das Lager einzurichten – eine Toilette zu graben, die Küche einzurichten, die Ausrüstung vorzubereiten. Dann wachen wir früh auf, frühstücken mit dem ganzen Team und machen uns auf den Weg zum Gletscher. Die Arbeit ist anstrengend, vor allem in den hohen Lagen. Die Akklimatisierung ist entscheidend, und wir müssen immer an unsere Sicherheit denken, aber auch dann ist die körperliche Belastung hoch. Auf schuttbedeckten Gletschern, wie denen in Nepal, ist das Terrain besonders heikel. Das Gehen auf instabilen Felsen und das Tragen schwerer Ausrüstung fühlt sich wie Meditation an – man konzentriert sich voll und ganz auf jeden Schritt.

Hat Sie ein besonderes Erlebnis auf einem Gletscher geprägt?

Ich werde nie vergessen, wie ich mir auf einem chilenischen Gletscher das Bein gebrochen habe. Ich war mehr als eine Stunde lang allein, bevor die Rettung eintraf, und als es dunkel wurde, erlebte ich etwas Neues – echte Existenzangst. Nie zuvor hatte ich so direkt über meine eigene Sterblichkeit nachgedacht. Aber dieser Unfall hat meinen Weg gefestigt. Es war während meines ersten Postdoc-Projekts, und trotz der Verletzung beschloss ich, in Chile zu bleiben, anstatt zur Behandlung nach Europa zurückzukehren. Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Sie lehrte mich Resilienz und eröffnete mir eine völlig neue Perspektive auf Land und Leute.

Arbeit auf dem Gletscher und die Erfahrung im Lager von ISTA-Professor Francesca Pellicciotti. © Eduardo Soteras Jalil

Beim Weltgletschertag geht es auch um die Auswirkungen der Gletscher auf die Gemeinschaften und die Wassersicherheit. Können wir Menschen eine emotionale Beziehung zu Gletschern aufbauen?

Gemeinschaften, die in der Nähe von Gletschern leben, haben oft eine tiefe Beziehung zu ihnen. Mancherorts gelten die Gletscher sogar als heilig und dürfen nicht gestört werden. Aber je weiter man flussabwärts geht, desto weniger werden Gletscher verstanden. Manche Menschen in den Tälern der Tiefebene wissen nicht einmal, was Gletscher sind.
Dies stellt ein Dilemma dar. Die Menschen sollten die Berge respektieren und schätzen, aber bedeutet mehr Bewusstsein auch mehr Tourismus? Ich bin Zeugin beunruhigender Dinge geworden – Massentourismus auf 4.000 Metern Höhe in Nepal zum Beispiel, wo Besucher:innen ihre Koffer (nicht einmal Rucksäcke) von Träger:innen tragen lassen und Pizza und Softdrinks aus dem Tal in solch extremer Höhe bestellen. Was bedeutet es also wirklich, die Berge zu „kennen“? Es muss mit Respekt und Demut einhergehen. Berge lehren Demut auf jeder Ebene – von der schieren Größe ihrer Existenz bis hin zu den persönlichen Erfahrungen derjenigen, die sich in sie hineinwagen. Sie sind mächtig und zerbrechlich zugleich, und wir müssen sie schützen.
Trotz unseres technologischen Fortschritts habe ich oft das Gefühl, dass wir zunehmend unvorbereitet auf das Leben auf diesem Planeten sind. Je mehr wir uns technologisch weiterentwickeln, desto mehr scheinen wir uns von der natürlichen Welt abzukoppeln. Ich wünschte, die Menschheit würde genauso viel in Bewusstsein, Weisheit und Respekt für die Umwelt investieren wie in die Technologie.



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