22. September 2014
Die Evolution als Tüftlerin
IST Austria Professor Krishnendu Chatterjee und Kollegen schlagen das Konzept eines „Regenerationsprozesses“ in der Evolution vor • Evolution als „Tüftlerin“ verändert bestehende Gensequenzen anstatt neue zu erzeugen • Studie erschien diesen Monat in PLOS Computational Biology
In einer Publikation, die diesen Monat in PLOS Computational Biology erschien (DOI: 10.1371/journal.pcbi.1003818), untersuchen Krishnendu Chatterjee, Professor am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria), und sein PhD Student Andreas Pavlogiannis gemeinsam mit Kollegen Ben Adlam und Martin A. Nowak von der Harvard Univerity den für neue evolutionäre Innovationen benötigten Zeitrahmen.
In der Evolutionsbiologie wird häufig gefragt, wie lange es dauert, bis sich eine vorteilhafte Mutation in einer Population durchsetzt. Die Autoren gehen von einem anderen Blickwinkel an die evolutionäre Innovation heran und fragen, wie lange es dauert, bis eine neue Funktion entsteht. Wie lange dauert es für eine Aminosäuresequenz von bestimmter Länge, die der Adaption unterliegt, bis eine neue Funktion gefunden ist? Die Autoren unterscheiden hier zwischen zwei Konzepten von Zeit: polynomische Zeit, das ist ein Zeitrahmen, in dem eine neue Funktion im Lauf der Evolution realistisch entstehen kann, und exponentielle Zeit, in der eine neue Funktion realistisch erreichbar wäre, aber nicht wahrscheinlich ist und generell nicht erwartet wird.
Während der Evolution kann sich eine Aminosäuresequenz an jeder Base ändern. Manche dieser Änderungen bringen Vorteile, manche Nachteile und manche haben gar keine Auswirkung. Für jede Sequenz gibt es also eine „Landschaft“ aller möglicher Sequenzvariationen, die jeweils einen anderen Fitnesslevel haben. Mit jeder Mutation springt die Sequenz von einem Punkt zum anderen und erforscht diese Fitnesslandschaft. Aber wie viele Sprünge werden durchschnittlich benötigt, um zum Ziel zu kommen?
Die Autoren analysieren die zugrundeliegenden stochastischen Prozesses mathematisch und führen Computersimulationen durch, um drei Szenarien in verschiedenen Fitnesslandschaften zu untersuchen. Wenn nur eine Population der Evolution unterliegt, um eine neue Funktion in diesen Landschaften zu orten, benötigt die Population eine exponentielle Zeit um die Funktion zu finden. Das ist für das Entstehen einer Innovation unrealistisch lange. Wenn mehrere Populationen evolvieren, machen es selbst mehrere, parallel verlaufende Suchen nicht wahrscheinlicher, dass eine Funktion in einem realistischen Zeitrahmen entsteht. Selbst wenn eine Population evolviert und es mehrere Wege gibt, auf denen die neue Funktion erreicht werden kann, braucht es immer noch exponentielle Zeit um sie zu finden.
Die Ergebnisse zeigen, dass es, mathematisch gesehen, unrealistisch lange dauert um eine Innovation zu entdecken, indem eine Sequenz die Fitnesslandschaft erkundet. Aber wir sehen, dass neue Funktionen während der Evolution entstehen. Wie werden sie erreicht? Die Autoren schlagen einen Mechanismus vor, den sie „Regenerationsprozess“ nennen. Dieser basiert auf der Idee, dass Evolution ein Problem leichter löst, wenn es bereits ein ähnliches gelöst hat. Genduplikationen und Genom-Umbau bieten einen konstanten Strom an Sequenzen, die eine bestimmte Anzahl an Mutationen von der Zielfunktion entfernt sind. Diese Sequenzen können wieder und wieder erzeugt werden. Die Forscher zeigen, dass eine neue Funktion von diesen Anfangssequenzen modifiziert werden kann, selbst wenn sie nicht der Selektion unterliegen. Noch dazu geschieht das mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines realistischen, polynomischen Zeitrahmens, allerdings nicht in allen Fällen.
Der vorgeschlagene Regenerationsprozess formalisiert mehrere bestehende Ideen über die Evolution. Er stimmt mit der Idee überein, dass Duplikation und Genom-Umbau wichtige Ereignisse sind, die zur Entstehung neuer Gene führen können. Er legt außerdem nahe, dass die Evolution eine „Tüftlerin“ ist, die bestehende Sequenzen verändert anstatt komplett neue zu erzeugen. Der Regenerationsprozess ist außerdem mit einer weiteren Idee verknüpft, die besagt, dass die Startposition zur Erkundung einer Fitnesslandschaft bereits hohe Fitness besitzen oder, wie in diesem Fall, nahe an der Zielfunktion sein muss. Der Prozess erklärt außerdem die Entstehung von „Waisen-Genen“. Das sind neue Gene, die durch Mutationen in einer zuvor nicht funktionalen Sequenz entstehen. Die Kombination dieser Ideen durchbricht die Barriere des Zeitbedarfs für evolutionäre Innovation und macht sie in einem realistischen Zeitrahmen möglich.