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29. April 2024

Die Gletscherforscherin

ISTA Professorin Francesca Pellicciotti im Interview mit C/O Vienna Magazine

Gletscher sind nicht nur gewaltig schön, sondern auch gewaltig lebendig. Sie schmelzen, lassen den Meeresspiegel steigen und lösen Naturkatastrophen aus, und doch sind sie eine wichtige Quelle für frisches Wasser, die wir zu erhalten hoffen. Am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) untersucht die italienisch-schweizerische Forscherin und Glaziologin Francesca Pellicciotti Gletscher, die – im Gegensatz zu den globalen Trends und der Klimaerwärmung – stabil sind oder sogar wachsen. Ein Gespräch über Demut und den dritten Pol.

In Kollaboration mit C/O Vienna Magazine von Eva Holzinger.

“Berge machen mein Leben besser.”

Francesca Pellicciotti. © Eduardo Soteras

Eva Holzinger: Francesca, woher kommt deine Faszination für Gletscher?

Francesca Pellicciotti: Von meinem Vater. Er ist in einem kleinen Dorf am Fuße des Gran Sasso aufgewachsen. Der Gran Sasso ist Teil der Apenninen, eines Gebirgszugs, der sich durch fast ganz Italien streckt, von Norden nach Süden. Mein Vater hat die Berge geliebt. Als junger Mann ging er oft die ganze Nacht lang den Berg hoch, um dann mit den Ski herunterzufahren. Er hat mich und meine beiden jüngeren Schwestern oft in die Berge mitgenommen, und ich erinnere mich, wie ich auf seinen Schultern die Skipisten hinunterfuhr. Im Sommer 2023 ist er verstorben, kurz bevor ich nach Österreich gezogen bin. Ein schmerzhafter Abschied und ein Neuanfang zugleich.

EH: Wie würdest du deine Beziehung zu den Bergen beschreiben?

FP: Da ist eine Art spirituelle Dimension in meiner Beziehung zu ihnen. Ich rede mit ihnen und sie zeigen mir, wie gewaltig und fragil sie zugleich sind. Berge machen mein Leben besser.

EH: Was erstaunt dich an Gletschern am meisten?

FP: Die Konsistenz des Eises und die Tatsache, dass sie oft in wunderschönen, unberührten Landschaften liegen. Ihre Majestät, ihr Material. Dass man viele Tage und Kilometer zu Fuß gehen muss, um sie zu erreichen. Die dünne Luft, die Anstrengung, die man braucht, um sie zu erreichen, der Respekt, den man vor ihnen haben muss. Es ist schwer zu erklären, warum ein Gletscher so schön ist; seine Größe und Dynamik verleihen ihm eine ganz besondere Präsenz, die man spürt, wenn man ihm nahe ist. Das gibt einem das Gefühl, klein zu sein.

EH: Wie riecht und hört sich ein Gletscher eigentlich an?

FP: Man riecht die dünne Luft in den Bergen. Es gibt Reinheit, visuell und für alle Sinne. Man hört den Klang der Berge, der Felsen und des Wassers. Reine Eisgletscher klingen anders als ein Gletscher, der mit Geröll bedeckt ist. Es ist ein sehr spezielles Geräusch, das man beim Gehen auf den Felsen hört, wenn sich die Felsen unter den Füßen verschieben und gegeneinanderstoßen. Das Gehen auf rollenden Steinen erfordert Konzentration und Gleichgewicht, es ist wie Meditation. Wenn man mit Steigeisen auf dem Eis geht, hört man auch, wie das dünnste Eis auf der Oberfläche von den Steigeisenzacken zerkleinert wird. Manchmal hören wir Lawinen von höhergelegenen Gletschern, die Schnee ins Tal bringen. Die Luft in den Bergen riecht frisch – und normalerweise ist es natürlich auch sehr kalt!

EH: Ein Gletscher lässt das eigene Ego schmelzen?

FP: Ja, Gletscher erwecken durchaus Demut in mir. Ich war an vielen herausragenden Orten, und das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) ist einer davon, voller großartiger Wissenschafter:innen, aber Wissenschafter:innen befinden sich oft in einer Bubble, und eine Welt des Wettbewerbs kann das Ego nähren. Es ist wichtig für mich, immer wieder aus dieser auszusteigen und mit der Realität da draußen in Berührung zu kommen, um die Berge zu schützen.

“Auf 3.000 Meter gibt es mittlerweile Pizza und Coca-Cola in Nepal.”

EH: In Österreich hat ein Klimaschutzverein im Herbst 2023 ein Begräbnis am Großglockner veranstaltet, wo die Pasterze dabei ist, ihre Gletscherzunge zu verlieren. Mit etwa acht Kilometer Länge der größte Gletscher in Österreich. Trauerst du auch um Gletscher?

FP: Wenn ich Gletscher vor Ort erforsche, komme ich ihnen natürlich sehr nahe. Und wenn ich ihnen nahe bin, sehe ich nichts als Schönheit. Ich selbst verspüre in dem Moment keinen Verlust, dafür sind sie einfach zu groß und schön. Aber ich trauere um den Planeten und seinen derzeitigen Zustand, und ich trauere, wenn ich Fotos oder Daten vergleiche, die zeigen, dass die Gletscher kleiner werden und „im Sterben liegen“.

EH: Bist du nicht auch manchmal wütend?

FP: Ja, bin ich. Was mich wütend macht, ist die Art und Weise, wie wir den Planeten behandeln, und ein Beispiel dafür ist der zunehmende Massentourismus in Nepal, der die Berge, ihre Täler und damit den Lebensraum der Einheimischen zerstört. Auf 3.000 Meter Höhe gibt es mittlerweile Pizza, Coca-Cola, Badewannen und Koffer statt Rucksäcke. Das zu sehen ist schmerzhaft und macht es noch schwieriger, an so stark frequentierte Orte zurückzukehren, die etwas von ihrer Seele und Schönheit verloren haben.

EH: Wie lassen sich Gletscher und ihre Reaktionen auf den Klimawandel erforschen?

FP: Im Grunde gibt es drei wichtige Methoden, mit denen wir arbeiten und die sogenannte Kryosphäre, also die Landschaften, die Eis oder Schnee enthalten, erforschen:  Wir entwickeln und verwenden numerische Modelle, die die Physik der natürlichen Welt simulieren können. Im Moment arbeiten wir mit integrierten, so genannten Landoberflächenmodellen und kombinieren sie mit Daten aus der Feldforschung und Satellitenbildern.

EH: Was macht eine Gletscherforscherin auf einem Gletscher? Wie sieht Dein Arbeitsalltag dort aus?

FP: Unsere Feldpläne hängen von den Forschungszielen der Expedition ab, aber oft versuchen wir, die Schmelze, das Klima und die hydrologischen Prozesse in den Einzugsgebieten, in denen wir arbeiten, zu charakterisieren. Wir installieren zum Beispiel eine Wetterstation, messen den Abfluss von Flüssen, stellen Pfähle zur Messung der Eisschmelze auf und installieren Zeitrafferkameras, um Veränderungen am Gletscher zu erfassen. Wenn wir in der Nähe des Gletschers zelten, stehen wir in der Regel früh auf, um zu frühstücken und dann die gesamte Ausrüstung für den Tag vorzubereiten. Normalerweise müssen wir dann auf den Gletscher wandern, um die Messungen durchzuführen, und kehren am späten Nachmittag zurück. Auch nach dem Abendessen haben wir oft noch viel zu tun: Daten sortieren, Ausrüstung aufladen und den nächsten Tag planen. Die Abende sind eine schöne Zeit, um sich ein wenig zu entspannen oder zu lesen, aber in der Regel geht es recht früh ins Bett, da es abends in der Höhe kalt ist und ein warmer Schlafsack daher verlockend ist.

“Wenn ich Gletschern nahe bin, sehe ich nichts als Schönheit.”

EH: Was genau kann man aus den Satellitenbildern ablesen?

FP: Satellitenbilder sind sehr nützlich, da sie uns Informationen in einem Maßstab liefern, der durch Messungen vor Ort einfach nicht zu erreichen ist. Wir nutzen sie, um die Schneeverhältnisse, die Albedo des Eises – also wie stark das Eis Strahlung reflektiert – sowie die Fließgeschwindigkeit der Gletscher, die Merkmale der Vegetation und der Bodenbedeckung und sogar die Massenbilanz, also die Gesundheit der Gletscher, zu untersuchen. Wir nutzen unsere Modelle als Hilfsmittel, um diese Prozesse zu verstehen. So können wir zum Beispiel genau untersuchen, welche Bedingungen zur stärksten Eisschmelze führen oder wie dynamisch die Schneedecke ist. Sie sind auch nützlich, um in die Vergangenheit zu blicken und die Zukunft vorherzusagen – also wie haben sich die Gletscher bereits verändert und wie werden sie in den nächsten Jahrzehnten aussehen?

EH: Was ist das Ziel deiner Forschung?

FP: Wir untersuchen, wie Gletscher und die Kryosphäre mit dem sich ändernden Klima interagieren und den Wasserkreislauf der Berge. Außerdem simulieren wir, wie sich die Gletscher und das Wasser aus den Bergen in Zukunft verändern werden und wo Nichtlinearitäten und Kipppunkte zu erwarten sind. Unsere Forschung hat viele Facetten, aber wenn wir die Gletscher- und Schneeprozesse besser verstehen und wissen, wie sie sich verändern, können wir besser vorhersagen, wie sie in Zukunft zu den Wasserressourcen beitragen könnten – oder auch nicht. Wir hoffen, dass die Menschen dadurch besser auf diese Zukunft vorbereitet sind und verstehen, dass wir jetzt handeln müssen, um die Gletscher und die Bergwelt – die Umwelt im Allgemeinen – zu erhalten.

EH: Und was untersucht ihr konkret, kannst du uns ein Beispiel nennen?

FP: Wir haben unterschiedliche Forschungsschwerpunkte. Mein Team und ich befassen uns zum Beispiel mit der Frage, wie Gletscher während Megadürren lebenswichtiges Wasser liefern. Megadürren sind schwere, mehrere Jahre lange Dürren, wie sie bereits in Chile vorkommen. Wir simulieren vergangene Dürren in Europa und Auswirkungen künftiger Megadürren am Computer. Mit der Erderwärmung geben die Gletscher immer mehr Wasser ab. Aber: Sie werden dadurch auch immer kleiner, sodass sie langfristig immer weniger Wasser abgeben.

EH: 2023 war das heißeste Jahr seit Messbeginn. Gletscher reagieren auf die Erderwärmung als „globale Fieberthermometer“. Sie zeigen uns, wie sehr und wie schnell sich das Klima verändert!

FP: Wenn das so weitergeht, gibt es irgendwann nur mehr sehr wenige Gletscher in Europa.

“Gefundenes Fressen für Klimawandelleugner!”

EH: Allerdings untersuchst du momentan Gletscher, die wachsen. Ist das „ewige Eis“ doch nicht passé?

FP: Das PAMIR- und das Karakorum-Gebirge ist die einzige Region, in der Gletscher nicht an Masse verlieren, sondern sogar wachsen oder konstant groß bleiben. Weltweit gibt es sonst kein solches Phänomen. Es befindet sich in einer Region der High Mountain Asia, kurz HMA, in Zentralasien. Das HMA umfasst alle großen asiatischen Gebirgsketten, vom Himalaya über das tibetische Plateau bis zum Karakorum und Pamir und ist der sogenannte dritte Pol. Es beherbergt die größten Eismassen außerhalb der Pole. Die Bedeutung des Projekts geht weit über diese Region hinaus.

EH: Warum wachsen diese Gletscher?

FP: Damit Gletscher wachsen können, muss sich auf ihrer Oberfläche mehr Schnee ansammeln, als Schnee und Eis schmelzen. Wenn das passiert, gewinnt der Gletscher an Masse und kann mit der Zeit wachsen. Es gibt drei Hypothesen, warum oder wie das geschieht: Die erste ist, dass sich der Monsun verändert haben könnte. Der Monsun kann niedrigere Sommertemperaturen erzeugen, was wiederum die Eisschmelze verringert. Es könnte aber auch daran liegen, dass im Winter und im Frühjahr mehr Schnee fällt und dieser Schnee die Gletschermasse erhöht. Die dritte und wichtigste Hypothese geht davon aus, dass es sich um ein vom Menschen verursachtes Phänomen handelt. Die Pamir-Karakorum-Region liegt nördlich eines der größten bewässerten landwirtschaftlichen Gebiete der Welt (in Pakistan). Wissenschafter:innen vermuten, dass die hohe Verdunstung des Bodens und die Transpiration der Pflanzen in dieser Region Wasser in die Atmosphäre zurückführen, das dann in die Hochlagen des Pamirs transportiert wird, was zu vermehrten Schneefällen auf den Gletschern führt. Wir werden in den nächsten Jahren herausfinden, was hier vor sich geht.

EH: Spannendes Phänomen!

FP: Ja! Aber man muss aufpassen, wie man über diese Tatsache spricht, weil es von Menschen, die den Klimawandel leugnen, gefundenes Fressen ist. Erderwärmung und wachsende Gletscher passen für Klimaleugnende natürlich nicht zusammen, aber das ist ein isoliertes Phänomen in einer Welt, die sich im Klimawandel befindet.

EH: Deine Feldarbeit hat dich von Nepal bis nach Chile geführt, vom Himalaya bis zu den Anden. Wie kam es dazu, dass du so viel im südamerikanischen und asiatischen Raum forschst?

FP: In den Alpen wird schon seit langer Zeit abgemessen und analysiert. In Südamerika und Asien gibt es viel größere Gletscher als in Europa, die viel weniger erforscht sind und für die Wasserversorgung von Millionen von Menschen in den flussabwärts gelegenen Gebieten entscheidend sind.

“Machte ich mir auch Feinde!”

EH: Erzähl uns von Deinen Forschungsreisen in Nepal!

FP: Zwischen 2011 und 2014 bin ich jährlich ins Himalaya-Gebiet gereist, und jedes Jahr war eine besondere Erfahrung. Man lebt und arbeitet in einer Hindu-Gesellschaft, die wiederum in Kasten eingeteilt ist. Dort gibt es sehr wenige weibliche Forschende. Auf einer Konferenz in Kathmandu traf ich ausschließlich auf Männer aus Pakistan, Indien und China. Ich war in Begleitung von zwei männlichen Kollegen dort. Man hat mich sofort gefragt, wessen Frau ich bin. Als westliche Frau sollte man sich dort behaupten können.

EH: Wie hast du dich behauptet?

FP: Indem ich eine Verbindung zu den Menschen vor Ort aufgebaut habe und junge Menschen (Männer und Frauen) fördere, die neugierig sind und weniger Vorurteile haben. In Nepal gibt es die ethnische Gruppe der Rai. Die Rai empfinde ich als sehr starke Menschen; wir haben im sogenannten Langtang Valley gearbeitet und dort mit ihnen Tee und Essen geteilt, um sie besser kennenzulernen. Als Ausländerin aus dem Westen bist du für sie eigentlich unantastbar. Im Jahr darauf bin ich unter anderem mit drei jungen Studentinnen als Teil meines Teams vom ETH Zürich nach Nepal zurückgekehrt. Dass ich direkten Kontakt mit den Rai hatte und noch dazu mit einer weiblichen Gruppe zurückgekommen bin – damit machte ich mir auch Feinde, vor allem mit Menschen aus einer sehr hohen Hindu-Kaste. Es ist für mich sehr wichtig, diesen humanitären Teil in die Wissenschaft miteinzubeziehen; die lokalen Menschen sollen verstehen, woran wir arbeiten und was wir erforschen.

“Ich habe mehrere Heimaten.”

EH: Wie habt ihr den Menschen vor Ort Eure komplexe Forschung erklärt?

FP: Wir haben ein Dokumentationszentrum gebaut und die Leitung dann in die Hände einer lokalen Frauengruppe übergeben. Weil die meisten Frauen Analphabetinnen sind, haben wir mit einem Grafikdesigner zusammengearbeitet und Poster kreiert, die man versteht, ohne lesen zu können. Wir haben auch Postkarten designt, die die Frauen an Tourist:innen verkaufen konnten. 2015 hat ein Erdbeben das Dorf und auch das Steinhaus mit dem Dokumentationszentrum zerstört, viele der Menschen, die wir dort kennenlernen durften, sind dabei zu Tode gekommen.

EH: Du bist in Italien aufgewachsen, hast lange in der Schweiz, aber auch in Newcastle in England gelebt und gearbeitet. Wo fühlst du dich zu Hause?

FP: Durch die vielen Umzüge und die regelmäßigen Reisen bin ich auf eine schöne Art und Weise entwurzelt. Ich habe mehrere Heimaten und mein Herz an vielen Orten: in Italien, in der Schweiz, in Chile und in Nepal. Auch in Österreich fühle ich mich schon sehr wohl, ich mag Wien gerne. Nur kulturell gesehen würde ich mich eindeutig als Italienerin bezeichnen – und das nicht nur, weil ich viel mit den Händen herumwedle (lacht)!

EH: Was erdet dich?

FP: Ich tanze Tango und lese Bücher. Ich liebe Pflanzen – ich rede auch mit ihnen – und Freunde. Kultur ist für mich genauso wichtig wie die Wissenschaft.

EH: Vielen Dank für das Gespräch!

Francesca Pellicciotti auf Gletscher-Exkursion. © Eduardo Soteras

Ausstellung: Walking on rolling stones

Wachsende Gletscher: Keine Fiktion, sondern Realität. Darf man hoffen? Über Forschung, Gefühle und komplexe Realitäten – das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) lädt zu Schritten nach vorne, mit forschendem Blick auf unsere Landschaften und Aussichten. Am Institut erforschen Wissenschafter:innen rund um Francesca Pellicciotti Gletscher, die der Erderwärmung noch zu trotzen scheinen. Anlässlich der ersten Wiener Klima Biennale nutzt das ISTA nun die Chance, dem Feld der Gletscher- und Hydrosphärenforschung eine Bühne zu geben und in Zusammenarbeit mit Künstler:innen deren Forschungsergebnisse und die damit einhergehenden Erkenntnisse zu thematisieren.

Galerie rauminhalt, Schleifmühlgasse 13, 1040 Wien
Öffnungszeiten 05.04.- 14.07.2024: Dienstag-Freitag, 12:00-19:00 sowie Samstag, 10:00-15:00 Uhr.



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