19. Juni 2024
Die Zell-Eisenbahn
Computersimulationen erklären Zellbewegungen
Man blickt unter das Mikroskop: Eine Gruppe von Zellen bewegt sich langsam voran, hintereinander wie ein Zug über die Gleise. Dabei navigieren die Zellen durch komplexe Umgebungen. Wie sie das tun und wie sie miteinander interagieren, zeigt nun ein neuer Ansatz von Forschenden mit Beteiligung des Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Die experimentellen Beobachtungen und das darauf basierende mathematische Konzept wurde in Nature Physics veröffentlicht.
Die meisten Zellen im menschlichen Körper sind unbeweglich. Einige haben jedoch die Fähigkeit, zu wandern. Bei der Wundheilung zum Beispiel bewegen sich Zellen quer durch den Körper, um verletztes Gewebe zu regenerieren. Manchmal machen sie das allein, manchmal in Gruppen. Diese Gruppen können unterschiedlich groß sein. Wie Zellen auf ihrer Reise interagieren und wie sie sich gemeinsam in der komplexen Umgebung des Körpers bewegen, ist noch nicht völlig klar. Ein interdisziplinäres Team aus theoretischen Physikern des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und Experimentalwissenschafter:innen der Universität Mons in Belgien hat nun neue Erkenntnisse gewonnen.
Die Forschenden untersuchten das Wanderverhalten einer kleinen Gruppe von Zellen in vitro in klar definierten Umgebungen – außerhalb eines lebenden Organismus, in einer Petrischale mit Innenausstattung. Dabei ließen sie sich von sozial dynamischen Experimenten inspirieren. Denn es gilt: Je kleiner die Gruppe, desto leichter lassen sich die Interaktionen verstehen, sowohl bei Menschen als auch bei Zellen. Die Ergebnisse und Regeln wurden jetzt in Nature Physics veröffentlicht.
Zellen reisen in Zügen
David Brückner läuft zurück in sein Büro und schnappt sich seinen Laptop. „Es ist besser, wenn wir ein paar Videos von unseren Experimenten zeigen“, sagt er begeistert und drückt Play.
Das Video zeigt eine Petrischale. Microstrips – eindimensionale Bahnen, die die Bewegung der Zellen leiten – sind auf ein Substrat gedruckt. Daneben befindet sich eine Zebrafischschuppe, die aus zahlreichen Zellen besteht. Spezielle Wundheilungszellen, so genannte „Keratozyten“, beginnen sich wie Ausläufer (Stränge) von der Schuppe in die Bahnen hineinzustrecken. „Durch Klebemoleküle auf ihrer Oberfläche haften die Zellen zunächst aneinander. Sie halten quasi Händchen“, erklärt Brückner. Plötzlich reißt die Verbindung ab. Die Zellen formieren sich zu winzigen Gruppen, die sich fortan wie Züge auf Gleisen vorwärtsbewegen. „Die Länge des Zuges ist immer unterschiedlich. Manchmal besteht er aus zwei-, manchmal aus zehn Zellen. Das ist abhängig von den Ausgangsbedingungen.“
Eléonore Vercurysse und Sylvain Gabriele von der Universität Mons in Belgien beobachteten dieses Phänomen, als sie Keratozyten und ihre Wundheilungseigenschaften innerhalb verschiedener geometrischer Muster untersuchten. Um diese rätselhaften Beobachtungen zu interpretieren, wandten sie sich an die theoretischen Physiker David Brückner und Edouard Hannezo am ISTA.
Zellen und ihr Lenkrad
„In jeder Zelle gibt es einen Gradienten, der bestimmt, wohin sich die Zelle bewegt. Dieser wird ‚Polarität‘ genannt und ist so etwas wie das eigene Steuerrad der Zelle“, so Brückner. „Die Zellen teilen ihre Polarität den benachbarten Zellen mit, sodass sie sich gemeinsam bewegen können.“ Wie sie das tun, ist aber ein Rätsel.
Brückner und Hannezo fingen an, an einer Tafel zu brainstormen. Die beiden Wissenschaftler entwickelten ein mathematisches Modell, das die Polarität einer Zelle, ihre Interaktionen und die Geometrie ihrer Umgebung kombiniert. Anschließend übertrugen sie das Gerüst in Computersimulationen, um die verschiedenen Szenarien zu visualisieren.
Als erstes untersuchten die Wissenschafter in Klosterneuburg die Geschwindigkeit der Zellzüge. Die Simulation ergab, dass die Geschwindigkeit der Züge unabhängig von ihrer Länge ist; es also egal ist, ob sie aus zwei oder zehn Zellen bestehen. „Man stelle sich vor, die erste Zelle würde die ganze Arbeit machen und die anderen hinter sich herziehen; die Gesamtgeschwindigkeit würde sinken“, erklärt Hannezo. „Das ist aber nicht der Fall. Innerhalb der Züge sind alle Zellen in die gleiche Richtung gepolt. Sie sind perfekt in dieselbe Richtung ausgerichtet und synchronisiert, und fahren deshalb reibungslos vorwärts.“ In anderen Worten: Die Züge besitzen gewissermaßen Allrad- und nicht nur Vorderrad-Antrieb.
Als nächsten Schritt vergrößerten die Theoretiker die Breite der Fahrspuren und der Zellcluster in ihren Simulationen. Im Vergleich zu Zellen, die sich in einer einzigen Reihe bewegen, waren Cluster viel langsamer. Die Erklärung dafür ist recht einfach: Je mehr Zellen sich zusammenschließen, desto mehr stoßen sie aneinander. Diese Kollisionen führen dazu, dass sie sich voneinander weg polarisieren und sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Die Zellen sind nicht richtig ausgerichtet, was den Bewegungsfluss stört und die Gesamtgeschwindigkeit drastisch beeinflusst. Dieses Phänomen wurde auch im belgischen Labor beobachtet (in vitro Experimenten).
Sackgasse? Kein Problem für Zellcluster
Hinsichtlich der Effizienz scheint es nicht ideal zu sein, sich in Clustern zu bewegen. Das Modell zeigt aber, dass es sehr wohl von Vorteil sein kann eine Traube oder einen Haufen zu bilden – zum Beispiel, wenn Zellen durch komplexe Umgebung navigieren, wie es im menschlichen Körper der Fall ist. Sowohl in den Experimenten als auch in den Simulationen setzten die Wissenschafter:innen die Zellen einer Sackgasse aus. „Die Zellzüge erreichen das Ende der Sackgasse schnell, taten sich aber schwer, dort die Richtung zu ändern. Da ihre Polarisation nach vorne ausgerichtet ist, konnten sie sich nicht auf einen Richtungswechsel einigen“, so Brückner. „Im Cluster hingegen sind bereits einige Zellen in die andere Richtung polarisiert, was den Richtungswechsel einfacher macht.“
Züge oder Cluster?
Nun stellt sich die Frage: wann bewegen sich Zellen in Clustern und wann in Zügen? In der Natur kommt beides vor. Einige Entwicklungsprozesse beruhen beispielsweise auf Zellhaufen, die sich von einer Seite zur anderen bewegen, während andere auf mehreren kleinen Zügen von Zellen beruhen, die sich unabhängig voneinander bewegen. „Unser Modell lässt sich nicht nur auf einen einzigen Prozess anwenden. Vielmehr handelt es sich um einen breit anwendbaren Rahmen, der zeigt, wie lehrreich es ist, wenn man Zellen in eine Umgebung mit geometrischen Beschränkungen bringt. Das stellt sie vor Herausforderungen und lässt uns ihre Interaktionen entschlüsseln“, fügt Hannezo hinzu.
Ein kleiner Zug vollgepackt mit Informationen
Aktuelle Publikationen der Hannezo Gruppe legen nahe, dass sich die Zellkommunikation in Wellen ausbreitet, und zwar als Zusammenspiel zwischen biochemischen Signalen, physikalischem Verhalten und Bewegung. Das jetzt vorgestellte Modell der Wissenschafter:innen bietet nun eine physikalische Grundlage für diese Zell-Interaktionen, welche möglicherweise zum Verständnis des großen Ganzen beitragen könnte. Mithilfe dieses Modells könne das Forschungsteam nun die molekularen Komponenten dieses Prozesses genauer erforschen. Laut Brückner helfen uns diese kleinen Zellzüge große Bewegungsmuster – wie die eines gesamten Gewebes – zu verstehen.
Publikation:
E. Vercurysse, D. Brückner, M. Gómez-González, A. Remson, M. Luciano, Y. Kalukula, L. Rossetti, X. Trepat, E. Hannezo & S. Gabriele. 2024. Geometry-driven migration efficiency of autonomous epithelial cell clusters. Nature Physics. DOI: 10.1038/s41567-024-02532-x
Projektförderung:
Das ISTA-Teil des Projekts wurde durch Mittel des European Research Council unter dem European Union’s Horizon 2020 Research and Innovation Programme (Grant Agreement No. 851288), durch die NOMIS-Stiftung und die European Molecular Biology Organization (Postdoctoral Fellowship ALTF 343-2022) finanziell unterstützt.
Information zu Tierversuchen:
Um grundlegende Prozesse etwa in den Bereichen Neurowissenschaften, Immunologie oder Genetik besser verstehen zu können, ist der Einsatz von Tieren in der Forschung unerlässlich. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß der strengen geltenden gesetzlichen Richtlinien der jeweiligen Länder, in denen die Forschung durchgeführt wurde (Belgien) aufgezogen, gehalten und behandelt.