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13. Januar 2020

Geometrie trifft Zeit: wenn sich 2D-Ausdrucke zu komplexen 3D-Objekten falten

IST Austria Doktorand und Informatiker entwirft in Zusammenarbeit mit Forschern von Caltech, USA und der Rey Juan Carlos Universität, Spanien, flache Membranen, die sich in einem vordefinierten zeitlichen Ablauf in eine vordefinierte Form krümmen - Studie veröffentlicht in Nature Communications

IST Austria Professor Bernd Bickel and PhD student Ruslan Guseinov. © IST Austria
IST Austria Professor Bernd Bickel und PhD Student Ruslan Guseinov. © IST Austria

Ruslan Guseinov, Doktorand in der Gruppe Computergrafik und Digitale Fabrikation des IST Austria und Professor Bernd Bickel demonstrierten in Zusammenarbeit mit ForscherInnen von Caltech, USA und der Rey Juan Carlos Universität, Spanien, einen neuartigen Mechanismus des selbständigen zeitlichen Morphens von Objekten. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

In seinem vorangehenden Forschungsprojekt entwickelte Ruslan Guseinov sogenannte „CurveUps“: flache 2D Platten aus dem 3D Drucker, die sich bei Lösen der Spannung in geformte 3D Objekte verwandeln. Mit seinem aktuellen Projekt geht er noch einen Schritt weiter und bringt die Zeit ins Spiel. Wie kann bei der Verformung gewährleistet werden, dass sich jeder Teil des Objekts in einer bestimmten Geschwindigkeit faltet? Dazu musste Folgendes entwickelt werden: einerseits ein Mechanismus, der sowohl Zeit als auch Geometrie berücksichtigt, und andererseits ein Algorithmus, um die Information von Zeit und Geometrie für ein bestimmtes Objekt im „intelligenten“ Material zu kodieren und im 3D Drucker auszudrucken.

Geometrie trifft Zeit: „Betätigungszeit-Landschaft“

Eine sogenannte Zelleinheit („Unit Cell“) bildet die kleinste Funktionseinheit des Membranmaterials der 2D-Zeichnung. Diese besteht ihrerseits aus kleineren Teilen, die bestimmte Rollen erfüllen, um im Objekt eine „Betätigungszeit-Landschaft“ („actuation time landscape“) zu erzeugen. Den zeitlichen Ablauf der Faltung ermöglichen Klammern von unterschiedlicher Stärke, die die Verbindungselemente der Membran darstellen. Je dicker eine Klammer ist, desto langsamer faltet sie sich, wenn das Material einer warmen Umgebung ausgesetzt wird. In einem ersten Schritt wurde von den Wissenschaftern die Geschwindigkeit der Faltung einzelner Einheiten bei unterschiedlicher Klammerdicke vermessen. Aus den gesammelten Daten wurde ein datengetriebenes Modell erstellt, das als Grundlage für den Algorithmus diente, mit dem die Wissenschafter nun definieren können, welche Teile der Objekte sich im Wasserbad schneller oder langsamer verformen sollen. Als Ergebnis liefert der Algorithmus dünne, flache Gitter, die im 3D Drucker gedruckt und an einer vorgedehnten Membran befestigt werden, die letztlich den Verformungsprozess steuert.

In ihrer Publikation demonstrierten die Wissenschafter das neue Konzept anhand von Objekten unterschiedlicher Komplexitätsstufen. Sie entwickelten eine Software, mit der man diese „Betätigungszeit-Landschaften“ direkt auf das Zielobjekt „malen“ kann, indem man den gewünschten Zeitpunkt der Verformung vorab im Computermodell markiert. Eines der Objekte zur Veranschaulichung des neuen Mechanismus ähnelt einer Blume: Um festzulegen, welches Blütenblatt sich zuerst falten soll, markierte Doktorand Ruslan Guseinov die Blütenblätter am Computer unterschiedlich, um die unterschiedliche Geschwindigkeit der Verformung zu definieren und Kollisionen bei der Faltung zu vermeiden. Der Verformungsprozess wird von der Software zunächst simuliert, bestätigt und erst dann wird die Membran im 3D Drucker hergestellt. Das fertige Objekt – noch in einem 2D Zustand – kommt danach in ein 56° Celsius warmes Wasserbad, um den Faltvorgang zu beginnen, der je nach Dicke der Klammern der Zelleinheiten zwischen 30 und 80 Sekunden dauert. Die zeitliche Abhängigkeit des Faltvorgangs erlaubt es den Forschern, Kollisionen während des Zusammenbaus der Blume zu vermeiden. Sobald das resultierende Objekt aus dem Wasser genommen wird und trocknet, versteift es sich irreversibel und die resultierende Struktur wird belastbar.

Komplexe Formen und mögliche Anwendungen

Um die unterschiedlichen Möglichkeiten des neuartigen Mechanismus zu demonstrieren, wendete die Bickel-Gruppe die neue Methode auch für den Entwurf, 3D Druck und Faltung zusätzlicher Formen an:  ein doppelt gekrümmtes Objekt, eine Doppelspirale und eine selbstverwebende Form. Durch dieses einzigartige Verhalten dient dieser Mechanismus dazu stabile Strukturen zu erzeugen, wie z.B. ein Stativ für Mobiltelefone, das das doppelte Gewicht tragen kann und dabei praktisch unverformt bleibt. Ruslan Guseinov, Doktorand am IST Austria über seine neue Publikation: „Wir konnten ein neues Konzept für selbstfaltende Materialien mit vielfältiger Funktionalität entwickeln, um komplizierte Formen nachzubilden. Meiner Meinung nach ist dies ein bedeutender Schritt in Richtung Industriedesign von Produkten, die sich dann bei Bedarf selbstständig zusammensetzen können. Ich finde das sehr spannend und bin neugierig, wie sich unsere Erkenntnisse in eine anwendbare Technologie umsetzen lassen.“ Weitere Anwendungsmöglichkeiten könnten im medizinischen Bereich oder in der Luft- und Raumfahrt liegen, ebenso wie in ästhetisch geschwungenen Möbeln mit sequentiell ineinandergreifenden Gelenken oder aerodynamischen Hüllen von Drohnen, die in der Publikation auf konzeptioneller Ebene ebenso vorgestellt werden.

Publication

Ruslan Guseinov, Connor McMahan, Jesús Pérez, Chiara Daraio & Bernd Bickel. 2020. Programming temporal morphing of self-actuated shells. Nature Communications. DOI:10.1038/s41467-019-14015-2



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