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14. Oktober 2025

Im Bann der Tundra

Forschende und die Veränderungen der sibirischen Landschaft

Die arktische Tundra ist nicht nur Schauplatz unberührter Natur, sondern auch Brennpunkt ökologischer Veränderungen. Forschende, die das zerbrechliche Gleichgewicht der Tundra untersuchen, enthüllen alarmierende Zeichen: Das Verschwinden von Flechten und die Zunahme an Bränden markieren einen Startpunkt einer Kettenreaktion mit möglichen globalen Folgen. Begleiten Sie die ISTA-Doktorandin Evgeniya Pravdolyubova und Ramona Heim von der Universität Münster bei ihrer Erkundung der sich wandelnden sibirischen Landschaft.

Die arktische Tundra Sibiriens.
Endlose Weiten. Im Sommer 2018 brach eine vielfältige Gruppe von Wissenschafter:innen zu einer Expedition in die arktische Tundra Sibiriens auf.© Evgeniya Pravdolyubova

“Whup-whup-whup“, die Rotorblätter des Helikopters dröhnen in den Ohren. Der Wind peitscht ins Gesicht. Der Hubschrauber setzt zur Landung an. Durch die aufgewirbelte Staubwolke springen Forscher:innen vollbeladen mit großen Rücksäcken und Taschen. Mit dabei ist Evgeniya Pravdolyubova.

Für Evgeniya, die noch vor wenigen Jahren als Biologielehrerin tätig war, ist es ein tolles Gefühl, nun hier zu sein, inmitten der unendlichen Weiten der arktischen Tundra auf der russischen Halbinsel Jamal im Nordwesten Sibiriens. Grenzenlose, unberührte Natur statt Klassenzimmer. Der süße Duft von Rhododendren und hartnäckige Moskitos statt Stundenwiederholungen.

Into the wild

Nach der Landung errichten die Forscher:innen ihr Basislager: eine kleine Zeltstadt, ausgestattet mit Stromgeneratoren, Mikroskopen und mobilen Öfen, umgeben von Steppen und Trampelpfaden. Ein paar Tage später wird alles wieder zusammengepackt. Mit den Hubschrauben geht es tiefer hinein ins Landesinnere.

„Der Sommer 2018 war drückend heiß“, erinnerte sich Pravdolyubova, weshalb das neue Lager etwas näher an einem See aufgebaut wird. Mit speziellem Filter wird das Wasser aus dem See zum Trinken aufbereitet. Wenn die Filter verstopft sind, wissen sich die Forscher:innen zu helfen und nehmen ihre Wandersocken, durch die sie ihr Wasser hindurch tröpfeln lassen. 

Abends sitzt man zusammen. Bei selbstgemachtem Tee aus fermentierten Weidenröschenblättern analysieren die Wissenschafter:innen die gesammelten Daten, mit denen sie versuchen, das Weideland der Rentiere zu evaluieren.

Sie nutzen dafür die Satellitenbilder der verschiedenen Tundra-Gebiete und kombinieren sie mit geobotanischen Beschreibungen, um die Beziehung zwischen Pflanzen und ihrer geographischen Umgebung abzubilden. Auch wird die Artenzusammensetzung von Moosen, Flechten, Gräsern und Sträuchern der besuchten Areale analysiert.

All diese Datenpunkte helfen dem Expeditionsteam, Schätzungen der verfügbaren Ressourcen für Sommer- und Winterweiden für Rentiere zu erstellen und daraus Empfehlungen für das Rentiermanagement zu definieren.

Rentiere und ihre Weidelandschaften

Rentiere sind integraler Part für die indigene Bevölkerung der Tundra. Bevölkerungsgruppen wie die Nenzen, die in Jamal beheimatet sind, betreiben Rentierzucht. Die Paarhufer dienen als Nahrungsquelle und werden für Kleidung oder für Werkzeuge benutzt. Die Weidepraktiken und die Wanderrouten der Tiere prägen die Lebensweise der Nenzen, ihre kulturelle Identität und ihre sozialen Strukturen. Sie sind für deren Lebensstil unverzichtbar, da sie die saisonalen Wanderungen auf der Suche nach Weideland durch die arktische Kälte erleichtern.

Eine Rentierherde in der Nähe von Salechard auf der Jamal-Halbinsel.
Harte Wintermonate in der Tundra. Eine Rentierherde in der Nähe von Salechard auf der Jamal-Halbinsel. Während des kalten Winters ernähren sich Rentiere hauptsächlich von Flechten. © Ramona Heim

Auch das Ökosystem der Tundra ist an die Rentiere angepasst. So beeinflusst das Grasen dieser eleganten Hirsche das Pflanzenwachstum und die Pflanzenvielfalt und verhindert, dass eine einzelne Art die Landschaft dominiert. Seit geraumer Zeit tragen aber verbesserte Naturschutzbemühungen und nachhaltigere Bewirtschaftungs-Praktiken zur Vergrößerung der Rentierpopulation bei. Dieser Anstieg macht sich auch auf den Weidelandschaften bemerkbar.

Nicht Pilz, nicht Alge, sondern beides

Cladina oder “ягель” (ausgesprochen „Jagil“), wie Evgeniya auf Russisch erklärt, eine Flechtengruppe des Cladonia-Genus, die hier in der Tundra häufig gedeihen, ist stark davon betroffen. Vor allem Cladonia rangiferina (die Rentierflechte) – Teil des Cladina-Subgenus – ist eine der Hauptnahrungsquellen der Rentiere in den bitterkalten Wintermonaten.

Flechten sind eigenartige Organismen, ein faszinierendes Doppelwesen aus Pilz und Algen. „Es handelt sich um symbiontische Lebensgemeinschaften aus Pilzen und photosynthetisch aktiven Organismen wie zum Beispiel Grünalgen oder Cyanobakterien“, erklärt Evgeniya.

Eine Ansammlung von Flechten an einem einzelnen Standort in der Tundra.
Eine Ansammlung von Flechten an einem einzelnen Standort in der Tundra. Die Hauptflechte in diesem Bild ist Cladonia stygia, eine Art, die Cladonia rangiferina sehr ähnlich ist, jedoch eine dunklere Thallusbasis aufweist. Darüber hinaus sind mehrere andere Cladonia-Arten (die nicht leicht zu erkennen sind) und Flavocetraria cucullata zu sehen. © Evgeniya Pravdolyubova
Leckere Flechten. Das Bild zeigt Cladonia uncialis und Cetraria ericetorum, die beide von Rentieren verspeist werden.
Leckere Flechten. Das Bild zeigt Cladonia uncialis und Cetraria ericetorum, die beide von Rentieren verspeist werden. Die rot leuchtenden Fruchtkörper von Cladonia pleurota werden von Rentieren gemieden, da sie nicht so schmackhaft sind. © Evgeniya Pravdolyubova
Flechten unter dem Mikroskop.
Flechten unter dem Mikroskop. Zurück im Basislager untersucht Evgeniya die Flechten, die sie in der Tundra gesammelt hat. Bei diesem Exemplar handelt es sich höchstwahrscheinlich um Cladonia uncialis. Ganz sicher ist sie sich jedoch nicht, da eine Bestätigung chemische Tests erfordern würde, die die Wissenschafter:innen mitten in der Tundra nicht durchführen können. © Evgeniya Pravdolyubova

Evgeniya ist Expertin auf dem Gebiet dieser Organismen. In den Sommermonaten, während der Schulferien, nahm die damalige Lehrerin oft an Exkursionen teil und lernte, Vögel und Flechten zu bestimmen. Bei einer Ornithologie-Konferenz traf sie dann schließlich auf Kolleg:innen, die dringend nach Pilzexpert:innen suchten, um ihnen bei der Bestimmung von Flechten in der Tundra der Jamal-Halbinsel im Nordwesten Sibiriens zu helfen.

Umgeben vom angenehmen Duft von Moss, hält Evgeniya nun Ausschau nach Rentierflechten. Zwar sind sie dank ihres grauen korallenähnlichen Körpers einfach zu erkennen, aber schwer zu finden. „In alten Sachbüchern wird die Rentierflechte mit einer Höhe von 60 cm beschrieben. Hier bei meiner Expedition in Jamal waren alle gefundenen Exemplare deutlich kleiner. Nur eine einzige, die ich auf einem Torfmoor gefunden habe, war um die 40 cm hoch“, führt die Forscherin aus.

Die Flächen in Jamal sind laut der Biologin stark überweidet, und die Regeneration der Flechten geht nur langsam voran. Zusätzlich wird die Situation durch die Auswirkungen der Erderwärmung und die steigenden Temperaturen verschärft, die zu weitreichenden Bränden in den letzten Jahren in der Tundra führten.

PhD Studentin Evgeniya Pravdolyubova
Evgeniya Pravdolyubova. Nach ein paar Jahren als Biologielehrerin zog es Evgeniya Pravdolyubova für einen Bioinformatik-Master ans Skolkovo Institute of Science and Technology (Skoltech) in Moskau. Nun ist sie Doktorandin in der Forschungsgruppe von Nick Barton am ISTA, wo sie ihr botanisches und bioinformatisches Wissen anwendet, um Geheimnisse der Löwenmäulchen aufzudecken. © ISTA
PhD Studentin Evgeniya Pravdolyubova schneidet Löwenmäulchen zurecht.
Löwenmäulchen zurechtschneiden. Treffen mit Evgeniya im Gewächshaus am ISTA im Herbst. Die Biologin bereitet ihre Pflanzen für die Wintermonate vor. Zwar haben ihre Löwenmäulchen keine Spitznamen, aber jedes einzelne Exemplar hat einen einzigartigen fünfstelligen Code, um sie voneinander zu unterscheiden. © ISTA

Feuer in der Tundra?

Im Gegensatz zu feueranfälligen Ökosystemen wie den Riesenmammutbäumen im Yosemite-Nationalpark in den USA, wo regelmäßige Brände für die Regeneration und Gesundheit des Ökosystems unerlässlich sind, waren Feuer in den meisten arktischen Tundra-Regionen in der Vergangenheit sehr selten.

Dieser Vergleich zeigt gut, dass Feuer mancherorts häufig ist und sich Wälder sogar daran angepasst haben. „Tundra-Ökosysteme sind normalerweise jedoch nicht an Brände angepasst. Wenn es aber doch zu Feuer kommt, haben diese in der Regel keine positiven Auswirkungen“, erklärt Dr. Ramona Heim vom Institut für Landschaftsökologie an der Uni Münster. „Oftmals verstärken Brände stattdessen in der Tundra die Auswirkungen des Klimawandels, setzen Kohlenstoff frei und können Veränderungen in der Vegetation auslösen.“

Wie Evgeniya besuchte auch Ramona 2017 und 2018 die sibirische Tundra. In Expeditionen zum Tasowski Rajon, östlich von Jamal, versuchte die Forscherin, das Zusammenspiel zwischen Bränden und der Tundra-Vegetation besser zu verstehen.

Die durch Feuer verursachten Schäden sind in der Waldtundra deutlich erkennbar.
Feuer in der Tundra. Die durch Feuer verursachten Schäden sind in der Waldtundra deutlich erkennbar. Diese Region bildet die südliche Übergangszone, in der die typische Tundra-Landschaft mit Wäldern aus Larix (Lärchen) und Pinus (Kiefern) durchsetzt ist. © Anastasiya Kurka

Ein arktisches Abenteuer: Die Tundra nach einem Brand

Ramona bückt sich und greift nach Blättern der Zwergbirke Betula nana. Sorgfältig platziert sie diese auf einen flachen Teller, zückt ihre Kamera und fotografiert sie. Trotz der warmen Temperaturen trägt die Forscherin ein langärmeliges T-Shirt, um sich vor den Moskitos zu schützen.

Nach der Probenahme macht sich Ramona mit ihren Kolleg:innen auf den Weg zurück zum Basislager. Mehrere Kilometer dichtes und buschiges Tundra-Terrain trennt sie noch von einem warmen herzhaften Abendessen: köstliches Kartoffelpüree. Die Zutaten dafür werden alle im Boden gelagert – quasi ein natürlicher Permafrost-Kühlschrank.

Ramona Heim, Mitglied der Forschungsgruppe Biodiversität und Ökosysteme am Institut für Landschaftsökologie der Universität Münster.
Ramona Heim. Als Mitglied der Forschungsgruppe Biodiversität und Ökosysteme am Institut für Landschaftsökologie der Universität Münster interessiert sich Ramona besonders für Vegetations- und Feuerökologie, Biodiversität, funktionelle Merkmale von Pflanzen und die Arktis. © Wieland Heim

In einer aktuellen Studie führte Ramona eine Meta-Analyse durch, in der sie Felddaten von ihren Tasowski-Ausflügen sowie Daten von Kolleg:innen wie Evgeniya und vielen anderen zusammenfasste. Ihr Ziel war es, Trends in der langfristigen Entwicklung der Vegetationsdecke für fünf bestimmte Pflanzentypen nach Bränden in der Tundra vorherzusagen.

Ihre Ergebnisse, die dieses Jahr in einem Mini-Review im Journal of Ecology veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass sich das Tundra-Ökosystem nach einem Brand in der sich erwärmenden Arktis möglicherweise nicht immer in seinen ursprünglichen Zustand zurückentwickelt. Die Forscherin und ihre Kolleg:innen schlagen zwei primäre Entwicklungspfade für das Ökosystem nach einem Brand vor.

Tundra in der Schwebe

Ein möglicher Verlauf wäre, dass holzige Vegetation, einschließlich Sträucher und anderer Holzpflanzen, dominanter wird. Der zweite Weg geht davon aus, dass Gräser an Häufigkeit zunehmen. Beide diese neuen Zustände können durch sogenannte „Rückkopplungsmechanismen“ verstärkt werden.

„Der von Gehölzen dominierte Zustand wird beispielsweise durch Rückkopplungsmechanismen wie eine stärkere Auftauphase des Bodens und längere Vegetationsperioden begünstigt, die die Ansiedlung und das Wachstum von Gehölzen nach einem Brand fördern“, erklärt Ramona ihre Hypothese.

„Im Gegensatz dazu wird der von Gräsern dominierte Zustand durch Rückkopplungen unterstützt, die die Entflammbarkeit erhöhen, da sich Grasabfälle ansammeln und die Landschaft anfälliger für wiederholte Brände macht.“

Tundragebiet im Tasowski Rajon
Tundragebiet im Tasowski Rajon
Tundragebiete im Tasowski Rajon im Jahr 2018. Das erste Bild zeigt einen Bereich 28 Jahre nach einem Brand. Das zweite Bild dokumentiert ein Areal aus einem unverbrannten Kontrollgebiet außerhalb der vom Brand betroffenen Zone. Die unterschiedlichen Vegetationstypen sind deutlich zu erkennen: In der verbrannten Landschaft wachsen mehr Sträucher und Gehölze, während das Kontrollgebiet überwiegend mit Flechten bedeckt ist. © Daniel Rieker

Insgesamt ist es jedoch schwierig, genau vorherzusagen, wie sich die Tundra verändern wird, da so viele Faktoren eine Rolle spielen und in vielen Teilen der Arktis noch nicht genügend Forschungsergebnisse vorliegen. Derzeit könne man nur Vermutungen darüber anstellen, wie sich alternative Ökosystemzustände entwickeln werden, so Ramona. Ein klares wissenschaftliches Verständnis, was passieren kann, hilft Verantwortlichen aber bei fundierteren Entscheidungen über Brandbekämpfung und Landbewirtschaftung.

Ein Teufelskreis mit globalen Folgen

Für die Flechten in der Tundra sieht die Zukunft aber nicht sehr rosig aus. Beide von Ramona vorgestellten Vegetationsverläufe gehen davon aus, dass sich der Doppelorganismus bei steigenden Temperaturen und häufigeren Bränden wohl kaum regenerieren wird. Ohnehin tut er dies schon kaum bei den derzeitigen Bedingungen und den immer größer werdenden Rentierpopulationen.

Das hat nicht nur Konsequenzen für die Ökosysteme, sondern auch für die Nenzen und deren traditioneller Lebensstil, welcher von flechtenreichen Landschaften abhängig ist, um ihre Rentierherden zu erhalten. „Der feuerabhängige Verlust oder Rückgang von Flechten könnte daher sowohl der Umwelt als auch den Kulturen, die davon abhängig sind, schaden“, erklärt Ramona.

Die arktische Tundra ist also in Gefahr, eine globale Kettenreaktion ist die Folge. Die häufiger auftretenden Brände beeinflussen nämlich den Permafrost, der große Mengen an Kohlenstoff speichert. Wenn dieser auftaut, gelangen immer mehr Treibhausgase in unsere Atmosphäre, was wiederum den Klimawandel weiter beschleunigt und Auswirkungen auf die gesamte Welt hat. Diese Herausforderungen in der Arktis sollten nicht isoliert betrachtet werden; sie sind ein Warnsignal und ein Vorbote für umfassendere globale Umweltveränderungen.

Die Sonne wirft einen sanften Schein auf die silbernen Flechten und der erdige Duft des Bodens liegt in der Luft. Jene stillen Momente erinnern uns daran, was auf dem Spiel steht. Sie geben Hoffnung, dass Landschaften wie diese auch für kommende Generationen erhalten bleiben.

Ein Bruchwasserläufer macht es sich auf Rhododendren gemütlich.
Der Bruchwasserläufer. Ein Tringa glareola (Bruchwasserläufer) macht es sich auf Rhododendren (Rhododendron tomentosum oder Labrador-Tee) neben Zweigen von Betula nana, der Zwergbirke, gemütlich.  Diese Brutvögel nisten typischerweise in Tundra- und Waldtundra-Zonen. Im Hintergrund sind die flauschigen Früchte von Eriophorum (Wollgräser, „пушица” auf Russisch) zu erkennen. Wollgräser sind charakteristisch für Torfmoore. © Evgeniya Pravdolyubova

Publikation:

Heim et al. 2025. Arctic tundra ecosystems under fire—Alternative ecosystem states in a changing climate? Journal of Ecology. DOI: 10.1111/1365-2745.70022



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