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22. Juni 2023

Ein wissenschaftliches Plädoyer für die Selbstidentifikation

Biologie bestätigt nicht-binäres Geschlecht und Gender trotz bestehender Vorurteile

Fragt man Nick Barton, Professor am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und weltweit anerkannten Experten für Evolutionsgenetik, ob die Natur queer ist, antwortet er: „Ganz bestimmt.“

Menschen weltweit fordern die Anerkennung von nicht-binärem Gender und Geschlechtern © unsplash license

„Es gibt eine riesige Vielfalt an Dingen, die in der Natur vor sich gehen“, fügt Barton hinzu. „Eine der großen Entdeckungen, vielleicht die größte Entdeckung in der Evolutionsbiologie des letzten Jahrhunderts aus den 1960er Jahren, war, dass es viel mehr genetische Variation gibt, als die Wissenschafter:innen erkannt hatten, und das hat sich bis heute gehalten! Es gibt eine enorme Variabilität sowohl auf der Ebene der DNA-Sequenz als auch bei fast allen Merkmalen, einschließlich des Sexualdimorphismus und der sexuellen Präferenz.“

Bartons Sichtweise über die Vielfalt in der Natur deckt sich mit der Botschaft des Pride Months, dass zumindest beim Menschen Geschlecht, Gender und Partnerschaft auf einem Kontinuum existieren. In der Tat sind das biologische Geschlecht und Gender getrennte Einheiten, zwischen denen es Brücken und Grenzen geben kann. Oft wird Gender, das ein identitätsbasiertes, gesellschaftlich abgeleitetes Konstrukt ist, fälschlicherweise mit dem Geschlecht in einen Topf geworfen, welches seinerseits mehrere biologische Ebenen wie Anatomie, Chromosomen, Hormone und Physiologie umfasst, die einander entsprechen können oder auch nicht. Die synonyme Verwendung von Geschlecht und Gender hat zu der falschen Vorstellung geführt, dass allein die Biologie Gender und damit auch die Geschlechterrollen in der Gesellschaft bestimmt.

Für den Großteil der Geschichte hat sich ein signifikanter Teil der biologischen Forschung mit Geschlechtsunterschieden beschäftigt. Das hat das inzwischen überholte Paradigma von binärem Geschlecht und Gender gestützt. Im Wesentlichen: Männer sind vom Mars und Frauen sind von der Venus. Obwohl sie weiter für sexistische und queerphobe Vorurteile sorgt, ist diese Unterscheidung von der Wissenschaft aber gar nicht unterstützt. Das Paradigma hat jedoch auch die Wissenschaft selbst verzerrt, indem sie uns falsche Maßstäbe für Geschlecht und Gender auferlegt hat.

Barton führt die dunkle Geschichte der Eugenik als Beispiel dafür an, wie die Wissenschaft in der Vergangenheit dazu beigetragen hat, die Vorurteile der Gesellschaft zu festigen, indem sie sie mit veralteter Wissenschaft untermauerte. „Hoffentlich sind wir jetzt besser“, so Barton. „Aber sicher bin ich mir nicht; manchmal frage ich mich, ob wir es nicht einfach mit anderen Vorurteilen zu tun haben.“

Der Verdacht, dass die Forschung weiterhin indirekt Vorurteile unterstützt, wird von Gemma Puixeu geteilt. Puixeu steht vor dem Abschluss der Doktorarbeit über die Evolution des Geschlechts in den Forschungsgruppen von Nick Barton und Beatriz Vicoso am ISTA, und meint, dass es der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht gelungen ist, sich mit der Frage zu befassen, wie sich Frauen und Männer voneinander unterscheiden, „nicht, weil wir es nicht genug versucht haben, sondern weil wir es zu sehr versucht haben“. Wenn wir an der Erforschung von Geschlecht und Gender festhalten wollen, schlägt Puixeu vor, eine andere Methodik zu finden, die den starken Einfluss soziokultureller Normen auf unseren Ausdruck von Geschlecht und Gender anerkennt und versucht, ihn von biologischen Fakten zu trennen.

Binäre Geschlechter und Gender in Frage stellen

Passend zur wissenschaftlichen Diskussion zu diesem Thema beigetragen hielt Puixeu 2021 einen Vortrag mit dem Titel „Questioning the biological basis of sex and gender differences“ auf der Tagung Systematics, Biogeography, and Evolution.

In diesem Vortrag legte sie die vereinfachende Logik hinter dem alten Paradigma der biologischen Grundlage von binärem Geschlecht und Gender offen, die sie dann nach und nach erodiert.

Das bisherige Paradigma beruht auf drei Säulen. Diese sind das chromosomale Geschlecht, das gonadale Geschlecht und das, was Puixeu als „systemisches Geschlecht“ bezeichnet. Letzteres bezieht sich auf die übergeordneten Aspekte des Geschlechts, welche miteinander verbundenen Merkmale wie das „Hirn-Geschlecht“, das körperliche Erscheinungsbild, den Tonfall der Stimme und das weibliche sowie das männlich programmierte Verhalten umfasst. Die vermeintlich binäre Natur jeder dieser drei Säulen ist durch wissenschaftliche Beobachtungen leicht zu widerlegen. Doch zunächst weist Puixeu auf einen entscheidenden Fehler in der Logik hin.

Jede dieser Säulen ist linear aufgebaut: Die Geschlechtschromosomen führen über Gene zu den entsprechenden Keimdrüsen, und das Keimdrüsengeschlecht führt über die Hormone zum systemischen Geschlecht. „Die Annahme ist, dass Gene und Hormone linear die Entwicklung der komplexesten Elemente des systemischen Geschlechts bestimmen, zu denen auch die Gehirnstruktur gehört. Dies führt zu völlig unterschiedlichen männlichen und weiblichen Gehirnen – das eine ist größer und schwerer, das andere ist stärker zwischen den Hemisphären vernetzt. Die beiden unterschiedlichen Gehirne würden zu zwei völlig unterschiedlichen Einstellungen, Verhaltensweisen, Vorlieben usw. führen, die letztlich das Geschlecht bestätigen sollen. Voilà! Das Geschlecht wäre von Natur aus binär. Und es wäre eine lineare Folge des binären Geschlechtschromosoms. So haben wir die Dinge lange Zeit verstanden und tun es heute noch“, so Puixeu.

Neue Erkenntnisse haben uns jedoch ein neues Bild vermittelt, das darauf hindeutet, dass der Prozess des Geschlechts und der Geschlechtsausprägung multifaktoriell ist, was zu einem Kontinuum von Möglichkeiten der Geschlechts- und Genderausprägung führt. Schätzungen gehen zum Beispiel von mindestens 40 Variationen von Geschlechtschromosomen beim Menschen aus. Von hier an nimmt die Komplexität jedoch zu, wobei es zu bidirektionalen Wechselwirkungen zwischen Genexpressionsmustern, Hormonspiegeln, Hormonempfindlichkeit und Physiologie kommt. Wenn wir schließlich zum Ausdruck des Genders gelangen, spielen auch verschiedene nicht-biologische Elemente wie Kultur, Erziehung und gesellschaftlicher Kontext eine Rolle in diesem Prozess. Puixeu zitiert eine neue Arbeit: „Es hat sich gezeigt, dass verschiedene nichtbiologische Faktoren sogar die biologischen Variablen wie Hormone oder Gehirnstruktur beeinflussen“. Ein Beispiel dafür ist das Mosaikmodell des menschlichen Gehirns, das davon ausgeht, dass jedes Gehirn eine Kombination dessen ist, was als männliche und weibliche Gehirnstrukturen angesehen wurde.

Gehirn-Mikroskopie-Bild zeigt Kommunikation zwischen Gehirnzellen © Mojtaba Tavakoli & Jake Watson/ISTA 

Selbstidentifikation entscheidend für inklusive und unvoreingenommene Wissenschaft

 „Die Verfestigung geschlechtlicher Binaritäten leugnet nicht nur die Existenz bestimmter Individuen, die dieser anderen Realität unterliegen, sondern verändert auch die Daten, die wir zum Verständnis und zur Bewertung von Geschlecht und Gender verwenden. Wir tun dies, indem wir intersexuelle Menschen dazu zwingen, ihre Körper zu verändern und ihren Hormonspiegel im Säuglingsalter zu verändern, wenn sie nicht in der Lage sind, ihre Zustimmung zu geben, nur, weil sie nicht in unsere aktuellen Normen passen. Wir verändern damit die Normen und damit auch unser Verständnis dessen, was wir für die grundlegendste biologische Dimension des Geschlechts halten“, so Puixeu. Es ist bemerkenswert, dass in einigen Ländern, darunter Österreich, intersexuelle Normalisierungsoperationen kürzlich für verfassungswidrig erklärt wurden.

Sowohl Puixeu als auch Barton betonen, dass die Wiederherstellung von Geschlecht, Gender und Partnerschaft in ein Kontinuum nicht die Tatsache auslöscht, dass das biologische Geschlecht für die Wissenschaft von entscheidender Bedeutung ist. Die Untersuchung von Geschlechtsunterschieden ist vor allem in Bereichen wie der Biomedizin und Bestandserhaltung wichtig. „Das Problem entsteht, wenn eine voreingenommene Wissenschaft dazu benutzt wird, einen ungerechten Status quo aufrechtzuerhalten“, erklärt Puixeu. Barton bietet an, dass „das Wichtigste, was die Wissenschaft tun kann oder sollte, darin besteht, den Menschen eine evolutionäre Perspektive zu vermitteln, damit sie sehen, wie seltsam und wunderbar die Natur ist: In einem tiefen Sinn schätzt die Evolution die Vielfalt.“

„Es lohnt sich, daran zu denken“, betont er, „dass der ganze Grund für die sexuelle Fortpflanzung darin besteht, die Vielfalt zu fördern.“

Geschlecht und Gender sind komplex und vielschichtig. Daher ist es, auch wenn wir deterministisch die Identität einer Person durch eine Analyse von Chromosomenzusammensetzung, der Anatomie und sogar der psychosozialen Verhaltensweisen oder Einstellungen von Menschen zu definieren versuchen, unwahrscheinlich, dass wir hier immer ein binäres Bild erhalten werden. Während Gender am besten den individuellen Identitäten überlassen wird, muss das Geschlecht möglicherweise neu definiert werden.

Geschlecht- und Genderbinarität sind, ebenso wie Heteronormativität, nicht biologisch festgelegt. Vielmehr gewährt uns die Biologie mehr Vielfalt, als wir derzeit bereit sind, anzuerkennen.

Weiterführende Literatur

How sexually dimorphic are we? Review and synthesis
Here’s Why Human Sex Is Not Binary
Sexing The Body, Book by Ann-Fausto Sterling
The Gendered Brain, Book by Ginna Rippon
Delusion of Gender, Book by Cordelia Fine



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